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Die olfaktorische Revolution und ihre Folgen-
Soziale Gerüche

Die Aufgabe des Riechorgans als Frühwarn- und Erkennungssystem möglicher Gefahren wird in zunehmendem Maße von der chemischen Analyse übernommen. Der Geruchssinn hat jedoch bald ein weiteres Tätigkeitsfeld: ab dem 19. Jh. bringt man den sozialen Gerüchen mehr Aufmerksamkeit entgegen.

Es bildet sich eine neue Empfindsamkeit gegenüber dem Geruch der armen Bevölkerung heraus: "As the upper and middle classes, at first reluctantly, began to purify their bodies, their homes and their streets of dirt, they grew more conscious of the malodours of the working classes which did not." (CLASSEN et al. 1994, 81).
Besonders interessant ist, daß nun auch Gefühle des Ekels durch Gestank hervorgerufen werden, wohingegen zuvor in diesem Zusammenhang ausschließlich von Angst die Rede war. Auch Ärzte und Armenbesucher zeigen offen ihre Abscheu. Es ist jedoch nicht klar, "ob es sich dabei um eine neue Intoleranz oder um eine neue Offenheit handelt [...]" (CORBIN 1984, 199).
Die soziale Zugehörigkeit mißt sich am Grad der sensiblen Geruchswahrnehmung und dem - möglichst duftenden - Eigengeruch: "Der köstliche Hauch der individuellen Atmosphäre und die hochempfindliche Nase bezeugen das Raffinement einer Person, die nie im Schweiße ihres Angesichts hat arbeiten müssen." (CORBIN 1984, 188). Für das einfache, arbeitende Volk sind schlechte Gerüche kaum wahrnehmbar, da "die Muskelkraft der Arme die gleichzeitige Ausbildung eines Riechorgans [verbietet]." (CORBIN 1984, 187).

Einige Berufsgruppen stehen besonders in dem Verruf zu stinken, allen voran Lumpensammler und Prostituierte und alle Berufsgruppen, die mit Aas und Unrat zu tun haben. Die Elendsviertel der Armen stehen nun im Mittelpunkt der Kritik, die sich wieder von der Elite ausgehend auf die niederen Schichten ausbreitet. Die notdürftigen Behausungen der Elenden sind den Wohlhabenden schon allein wegen der Enge ein Greuel, welche die Masse von Mensch, Tier und Exkrementen und die Gefahr des Erstickens erahnen läßt.
Seuchen werden auf den Platzmangel zurückgeführt: "...je beengter die Verhältnisse, in denen die Menschen leben, desto grausamer geht der Tod um." (CORBIN 1984, 204).
Auch das ehemals romantisierte Landleben genießt kein gutes Ansehen mehr, während sich das der Stadt verbessert: "Die Stadt wird zum Ort des Unverderblichen, des Geldes, während das Land die Armut und die Fäulnis der Exkremente symbolisiert.[...] Enge Räumlichkeiten, winzige Fenster, Luft- und Lichtmangel, feuchte Böden, die nicht einmal mit Steinplatten ausgelegt sind, unheilvolle Dämpfe, stinkender Mist im Verbund mit dem Geruch von Waschlaugen und Spülwasser sowie die unerträgliche Nähe der Viehställe und der Molkerei, von denen faulige, vergorene Dunstschwaden aufsteigen - dies sind die wesentlichen Bestandteile des dargebotenen Bildes." (CORBIN 1984, 207).
Um die Situation der Armen im besonderen und der restlichen Bevölkerung im allgemeinen zu verbessern, sind Hygienemaßnahmen unerläßlich. So werden z.B. Gemeinschaftslatrinen durch abschließbare Toiletten ersetzt, Wände werden häufiger gestrichen, bessere Belüftungssysteme werden eingeführt. Mancherorts kontrolliert eine Art "Gesundheitspolizei" den Zustand der Wohnhäuser und verordnet bei Mißständen Maßnahmen, die in einer bestimmten Frist angewandt werden müssen.

All dies ist jedoch nicht überzubewerten, da der Fortschritt in Sachen Hygiene nur sehr schleppend vorangeht. Ein wichtiger Meilenstein stellt in diesem Zusammenhang die Erziehung zu Reinlichkeit in den Schulen dar (wie schon zuvor in Hospitälern und Gefängnissen), außerdem natürlich die Verbreitung öffentlicher sanitärer Anlagen und Bäder und die Verbesserung der Lebensumstände der armen Bevölkerung: "The new doctrine of cleanliness did eventually penetrate the working classes, due to the teaching of hygienic practices in the expanding school system, the amelioration of the living conditions of workers and the construction of public baths." (CLASSEN et al. 1994, 82). 1880 findet L. Pasteur heraus, daß Keime für die Verbreitung von Krankheiten verantwortlich sind und nicht der Geruch. Diese Entdeckung führt zur Aufgabe des Glaubens an die Krankheitsgefahr durch Erdausdünstungen und anderen Gestank.
Übelriechende Mitmenschen stellen zwar eine Belästigung dar, jedoch kein Risiko für die Gesundheit. Die Nase hat ihre ehemals wichtige Sonderaufgabe im Aufspüren von Gefahren verloren; die Bedeutung des Geruchssinns sinkt.
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