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Die Gefahrenquellen
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Eine besonders
tückische und schwer kontrollierbare Gefahr durch Miasmen sehen die
Menschen noch im 19. Jh. in den Ausdünstungen, die aus dem Inneren
der Erde in die Luft entweichen. Man glaubt, daß aufgrund der im Erdinneren
herrschenden Hitze ständig Gärungsprozesse ablaufen, die krankmachende
Gase produzieren. Diese entweichen insbesondere dort, wo sich Risse
in der Erdoberfläche befinden, so daß man große Angst vor undichten
Stellen jeglicher Art entwickelt, z.B. vor offenen Spalten in Sümpfen,
rissigen Böden oder undichten Senkgruben. Am größten ist die Gefahr
dort, wo Wasser und Luft stagnieren, z.B. in stehenden Gewässern,
Sammelgruben oder geschlossenen Räumen.
Man glaubt zudem, daß die Erde nicht nur selbst Stoffe ausscheidet,
sondern auch vollgesaugt ist mit todbringenden Dämpfen, die sich im
Laufe der Zeit aus Exkrementen, Aas und Leichenresten angesammelt
haben und in unbestimmter Zeit wieder in die Luft entlassen werden.
Offensichtlich "verseuchte" Gebiete sind für die Menschen nicht mehr
nutzbar, sie werden - sofern möglich - gemieden. Besonders problematisch
ist die Situation in den großen, mit dem Unrat von Generationen verschmutzten
Städten, in denen "der Mensch [...] machtlos [ist] gegen die Fäulnis
der Geschichte" (CORBIN 1984, 38).
Aus diesem Grund konzentriert sich die Forschung in erster Linie auf
die Bekämpfung der Gefahr durch den Schmutz der Gegenwart. So wird
beispielsweise durch den Chemiker E. Chevreul die Verseuchung des
Pariser Bodens anhand zahlreicher Schlammproben untersucht. Dieser
erkennt auch die Gefahr, die von Mauern und Decken ausgeht: sie haben
ebenfalls die Eigenschaft, krankheitserregende Dämpfe aufzunehmen
und weiterzugeben.
Besondere Aufmerksamkeit widmen die Hygieniker den Gerüchen von Exkrementen,
Leichen und Aas, die eine starke Bedrohung für die Bevölkerung der
großen Städte darstellen. In den Straßen sammelt sich Unrat jeglicher
Art, der vom Regen in die nächstgelegenen Flüsse geschwemmt wird und
sie in "little more than open sewers" (CLASSEN et al. 1994, 55) verwandelt,
insbesondere als im 19. Jh. überall Kanalisationsrohre verlegt werden,
um sämtliche Abfälle in die Flüsse zu schwemmen, da "es in den Straßen
der rasch wachsenden Städte immer mehr zu stinken begann und man die
Nase im wahrsten Sinne des Wortes "voll" hatte [...]" (JÜTTE 2000,
229).
C. Classen et al. schildern die Situation besonders anschaulich anhand
eines Gedichtes von S. T. Coleridge aus dem späten 18. Jh.:
In Köln, a town of monks and bones, And pavements fang'd with
murderous stones, And rags, and hags, and hideous wenches, I
counted two and seventy stenches, All well defined, and several
stinks! Ye nymphs that reign o'er sewers and sinks The river
Rhine, it is well known, Doth wash your city of Cologne: But
tell me, Nymphs! What power divine Shall henceforth wash the
river Rhine?
(CLASSEN et al. 1994, 56) |
Besonders im Zuge der Industrialisierung im 19. Jh. wachsen die Städte
enorm an und sind somit mit noch mehr Müll belastet. Zusätzlich sind
sie nun auch der neuen Verschmutzung durch die Industrie ausgesetzt,
welche jedoch erst spät (Ende 19./Anfang 20.Jh.) als üble Quelle des
Gestanks entdeckt und bekämpft wird.
Die Landluft hingegen wird als verhältnismäßig angenehm und gesund
empfunden. Bei R. Jütte findet sich hierzu ein Zitat eines Berliner
Sanitätsrates, der 1878 in seiner Gesundheitslehre für jedermann schreibt:
"Draußen auf dem Lande fehlt's zwar nicht an allerhand ‚Düften', namentlich
zur Düngezeit, aber sie streifen unsere Nüstern nur oberflächlich,
ziehen vorüber und muthen manchen schwärmerischen Sinn, weil ‚nach
Land riechend', sogar angenehm an.
In der Stadt dagegen scheint der Geruch wie durch eine Centnerlast
zusammengedrängt, festgehalten und so zudringlich, daß selbst das
geduldige Gemüth den beschönigenden Ausdruck ‚übler Geruch' fallen
läßt und über den Gestank klagt und das ist die richtige Diagnose:
die Stadtluft stinkt!" (JÜTTE 2000, 227). Quellen ab Mitte des 18.
Jh. weisen eine Vielzahl von Schriften, Beschwerden, wissenschaftlichen
Untersuchungen etc. auf, die sich mit dem Gestank und dessen Bekämpfung
auseinandersetzen. Dies ist nicht nur unter den Gelehrten ein viel
behandeltes Thema, sondern unabhängig von sozialen Schichten spricht
man über Exkremente am Hof genauso wie in der Stadt. Es ist eine Angelegenheit,
die alle angeht und bedroht, und in der alle Menschen gleich sind:
die Reichen produzieren ebenso übelriechende Gase wie die Armen.*
Die Angst vor den mit ihnen verbundenen Gefahren hat eine "neue Sensibilität"
(CORBIN 1984, 42) gegenüber Gerüchen ausgelöst.
*Erst im 19. Jh. verbindet man Gestank mit Armut, während Wohlgerüche
der bürgerlichen Elite vorbehalten sind.
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