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Die olfaktorische Revolution und ihre Folgen-
Veränderter Umgang mit Gerüchen

Durch die Erkenntnisse der Wissenschaft Mitte des 18. Jh. wächst die Angst vor dem Geruch des Anderen und die Toleranzschwelle gegenüber Gerüchen im allgemeinen sinkt, obwohl es die gleichen sind wie zuvor.

Zunächst nimmt die Sensibilität in den oberen Bevölkerungsschichten zu, dann breitet sie sich auch auf die sozial mittleren und schließlich niederen Schichten aus. Ziel dieser "Revolution der Geruchswahrnehmung" (CORBIN 1984, 86) ist es, eine "vollständige Desodorisierung zu erreichen" (CORBIN 1984, 86), also den menschlichen Lebensraum in all seinen Bereichen von seinen Gerüchen zu befreien.

Dies wirkt sich zuerst auf die Sprache aus, indem die geruchsbezogene Sprachvielfalt abnimmt: "Das klassische Französisch wurde gereinigt, gesäubert von seinem anstößigen und widerwärtigen Vokabular. Auf diese Weise hoffte man es vor jeder Zersetzung zu schützen. Daher die rückläufige Entwicklung bei der Erwähnung geruchsbezogener Phänomene [..]" (CORBIN 1984, 86).

Auch für Deutschland ist belegt, daß sich "spätestens seit dem 18. Jahrhundert der Geruchswortschatz, zumindest im Deutschen [, verringerte.] Von der Vielzahl der Wörter, die noch weit in die frühneuhochdeutsche Zeit hinein die verschiedenen Formen der Geruchsempfindungen beschrieben, sind in der Gegenwart nur noch etwa ein Viertel erhalten geblieben." (JÜTTE 2000, 229).

Was das öffentliche Leben betrifft, fürchtet sich die Bevölkerung Europas insbesondere vor Orten, an denen sich Massen von Mensch und Tier befinden (z.B. auf Märkten). Die am schlimmsten verseuchten Bereiche menschlichen Lebens sind jedoch geschlossene Räume, allen voran Schiffe, gefolgt von Gefängnissen, Friedhöfen und Krankenhäusern, über die A. Corbin wie folgt berichtet:
"Das hechelnde Atmen und die verderblichen Schweißabsonderungen der Kranken, ihr schleimiger Auswurf und die eitrigen Substanzen, die aus den Wunden fließen, der Inhalt von Kübeln und Nachtstühlen, die Arzneigerüche und die Ausdünstungen der Wundpflaster vermischen sich zu einem überwältigenden Gestank, an dessen Zusammensetzung die Ärzte das Risiko sich anbahnender Epidemien rechtzeitig zu erkennen versuchen." (CORBIN 1984, 74).

Gegen Ende des 18. Jh. verbreitet sich in der Medizin ein der antiken Naturlehre entlehnter Glauben, der besagt, daß nicht nur jedes Lebewesen seinen spezifischen Geruch hat, sondern auch jedes Körperteil und jedes Organ über eine eigene Duftnote verfügen. Über ein Jahrhundert lang beschäftigt man sich intensiv mit der Klassifizierung von Menschen und ihren Gerüchen.
Es wirken vielerlei Faktoren auf die Herausbildung des Geruchs ein, z.B. das Klima, die Art der Nahrungsmittel, das Geschlecht und Alter der Person, der ausgeübte Beruf, die Umgebung (gesunde Landluft oder gefährliche Stadtluft), aber auch Gefühlszustände wie Zorn oder Angst und die persönlichen Laster und Gewohnheiten: "Zorn regt die zersetzende Gallentätigkeit an und äußert sich in stark riechendem Atem. Angst und Schrecken verleihen dem Achselschweiß eine widerwärtige Nuance, Stuhl und Blähungen werden unerträglich. Die üblen Ausdünstungen des Vielfraßes und der saure Weingeruch des Säufers bestärken den traditionellen Glauben an den eigentümlichen Gestank des Sünders [...]." (CORBIN 1984, 57).
Dieser steht im krassen Gegensatz zu jenem lieblichen Duft, welcher angeblich den Heiligen anhaftet.
In der Medizin untersucht man auch die individuellen Gerüche, die mit den verschiedenen Krankheiten einhergehen, und erstellt anhand der Art des Gestankes Diagnosen. Auch der eigene Körper und seine Ausdünstungen werden von Wissenschaftlern genauestens unter die Nase genommen, z.B. indem sie Glasröhrchen am Körper festbinden, "um so die Gase von ihren Armen, ihren Achselhöhlen oder ihren Därmen aufzufangen." (CORBIN 1984, 61).
Der individuelle Körpergeruch ist auch in ganz anderer Hinsicht interessant: er entscheidet über die Verführungskraft der Person und über die Sympathie bzw. Antipathie, die ihr die Umwelt entgegenbringt. Vor allem was die Verführungskraft von Geruch betrifft, finden sich zahlreiche Beispiele in der Literatur, wie beim jungen Paris aus Goethes ‚Faust', dem die Damen des Hofes aufgrund seines Geruchs zu Füßen liegen.
Jedoch birgt der Geruch des anderen auch eine Gefahr, denn wer stinkt kann nicht gesund sein und somit auch andere krank machen. Insbesondere der Atem gilt als Überträger übler Gerüche und gefährlicher Miasmen.
Auch der Umgang mit Parfüm und anderen Duftstoffen wird ab Mitte des 18. Jh. ein anderer. Zunächst geraten animalische Substanzen wie der Moschus in den Verruf, fäulniserregende Wirkungen zu haben. Etwas später sind auch aufdringliche Parfüms verpönt, da eine Mode aufkommt, in der leichte, natürliche und blumige Düfte bevorzugt werden. Die pneumatische Chemie findet schließlich um 1770 heraus, daß die schon in der Antike zu Heilungs- und Vorbeugungszwecken verwendeten Aromata keinerlei medizinischen Nutzen haben. Doch der alte Glaube an die Heilkraft der aromatischen Stoffe hält sich noch bis ca. Mitte des 19. Jh., obwohl das Vertrauen der Wissenschaft schon etwa 50 Jahre vorher bei den neuen chemischen Arzneimitteln liegt.
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