Schon zum Ende des 19. Jahrhunderts setzte man sich innerhalb der
physischen Anthropologie intensiv mit den Sinnen auseinander. Im
Rahmen der Anthropometrie wurden z.B. Messungen zur Seh- und Riechschärfe
oder Farbenblindheit unternommen. Dies sollte die Primitivität fremder
Kulturen belegen, die Evolutionstheorien stützen und damit kolonialistische
Absichten legitimieren.
Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und dem Untergang des national-sozialistischen
Deutschlands distanzierte sich die Ethnologie von diesen ethnozentristischen
und rassistischen Forschungsintentionen. Eine Beschäftigung mit
den Sinnen trat aufgrund dieser "Vorbelastung" in den
Hintergrund.
Zwar wurden bereits in Monographien von Radcliffe Brown (The Andaman
Islanders, 1964) und Ruth Benedict (Patterns of Culture, 1935) die
Sinne als Thema wiederentdeckt, eine intensivere Auseinandersetzung
aber begann erst mit der "anthropology of the body" ab Mitte der
70er Jahre. Dieser Diskurs beschäftigt sich mit den Auswirkungen
des physischen Organismus auf die Ausbildung sozialer Systeme und
schließt damit auch die Betrachtung der Sinne ein.
Die Ethnologie der Sinne ("anthropology of the senses") selbst,
entwickelte sich aus den Forschungen der kanadischen Gruppe "Concordia
Sensoria Research Group" der Universität Toronto. Verschiedene WissenschaftlerInnen
um den Anthropologen David Howes (Constance Classen, Anthony Synnott,
Paul Stoller u.a.) begannen in den 90er Jahren, Daten von sensorischen
Modellen verschiedener Kulturen zu sammeln und zu vergleichen. Sie
gehen davon aus, dass eine fremde Kultur nur über die Anpassung
der eigenen Wahrnehmung an das jeweils fremde Sensorium verstanden
werden kann.
Die Dinge nicht nur "mit anderen Augen" betrachten, sondern auch
neu schmecken, riechen und fühlen steht im Mittelpunkt der Ethnologie
der Sinne.
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